Existiert der Tatzelwurm?

Ulrich Magin ist als Autor für diverse Publikationen zum UFO-Phänomen, aber vor allem auch für solche zur Kryptozoologie bekannt, also alles was sich um „Ungeheuer“ oder verborgene Wesen dreht. Auch wenn beide Themen nicht unmittelbar zusammenhängen, finden sich viele Parallelen, aufgrund der vorwiegenden Referenz auf Augenzeugenberichte und der Zugehörigkeit zu so genannten außergewöhnlichen menschlichen Erfahrungen. Insofern lohnt sich auch immer ein Blick darauf. Im Folgenden stellt Magin sein neues Buch „Der Tatzelwurm: Porträt eines Alpenphantoms“ vor.


Wie die UFOs beruhen auch viele „Ungeheuer“, mit denen sich Kryptozoologen befassen, nur auf Augenzeugenberichten. Das ist beim Bigfoot so, bei den Seeschlangen im Meer und in Binnengewässern, und bei modernen Drachen.
Früher verkörperten Drachen Naturgewalten, die Fluten und Bergstürze, das Heidentum oder den Teufel. Aber je mehr Gebiete die Menschen erschlossen, desto weiter in die Ferne rückten lebende Drachen. Der Glaube an sie starb nach und nach aus – bis auf zwei besonders wilde und unzugängliche Gebiete, die europäischen Hochgebirge und die unergründlichen Tiefen der Seen. Während das Ungeheuer von Loch Ness nach wie vor für Schlagzeilen sorgt, ist es um den Tatzelwurm, das geheimnisvolle Untier der Alpen, mittlerweile still geworden.
Trotzdem war der Tatzelwurm früher eine echte Gefahr: Das Reptil stürzte sich auf Menschen und spie sie mit seinem giftigen Atem an. Für sein neues Buch „Der Tatzelwurm: Porträt eines Alpenphantoms“ (raetia 2020) hat Ulrich Magin über 430 Augenzeugenberichte gesammelt und analysiert. Das Ergebnis ist eine aufregende zoologische Schnitzeljagd und zugleich eine spannende Traditionsgeschichte des gesamten Alpenraums.

Der Tatzel-, Spring- oder Stollenwurm wurde nämlich bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts regelmäßig in allen Alpenstaaten von Touristen, Bauern, Bergsteigern und Förstern gesehen: ein walzenförmiges Reptil mit ein, zwei oder mehr Beinpaaren, einem Katzen- oder Schlangenkopf, mal ganz schlangenförmig, stets aber hoch giftig – und dieser Wurm sprang in oft meterhohen Hüpfern. Die Tiere wurden in Teichen, Bächen und Seen gesehen, waren also keine reinen Bergbewohner, sondern müssten ausgezeichnete Schwimmer sein. Noch 1857 warnt eine Chronik des Kantons Bern vor den „zwei Seeungeheuern“ im Brienzer See. Und ein anderer Bericht fügt an, sie hätten einen grauslichen Kopf mit einer Hundeschnauze und zwei krallenbewehrte Füße gehabt und seien imstande gewesen, Boote zum Kentern zu bringen.
Allerdings wird bei der Lektüre der Berichte schnell klar, dass der Tatzelwurm – wie das UFO – ein wandelbares Geschöpf ist: Die gesehenen Exemplare unterscheiden sich nicht nur bei der Kopfform oder Beinzahl – mal hat der Tatzelwurm Flügel, mal keine, mal ist die Haut glatt, dann wieder schuppig. Er kann scheu oder aggressiv sein, sein Gift gilt als das tödlichste überhaupt und doch empfehlen manche, den Tatzelwurm als Sonntagsbraten zuzubereiten. Kryptozoologen, die sich mit unentdeckten Tieren befassen, betrachten ihn als einen sogenannten Kryptiden, ein wissenschaftlich noch nicht erfasstes und bestimmtes, aber reales Tier.
Dennoch sind Beweise rar gestreut. Immer wieder melden zwar die Augenzeugen, sie hätten das furchtbar fauchende Tier erlegt – in rund einem Fünftel aller Fälle wird das zumindest erzählt –, aber kein einziger unidentifizierbarer Rest blieb erhalten. Immer wenn ein erschlagener Tatzelwurm untersucht werden konnte, stellte er sich als etwas ganz Gewöhnliches heraus – eine tote Eidechse, ein Rehskelett oder, besonders kurios, eine Geweihstange.

Diese Vielfalt, dieses Fassen-Können und doch nicht Fassen-Können, macht wie bei den UFOs oder den Seeschlangen den Reiz des Themas aus. Zumindest in den 1930er Jahren hofften manche Zoologen noch auf eine endgültige Frage, was genau der Tatzelwurm sei. Dieser Debatte, aber auch dem, was Augenzeugen seit 250 Jahren sahen und erzählten, geht Ulrich Magin detailliert nach. Und per App ermöglicht das Buch einen Zugriff auf eine Datenbank mit den 330 Sichtungsberichten, die die Grundlage des Textes bilden.

Ulrich Magin
Der Tatzelwurm: Porträt eines Alpenphantoms
Bozen: raetia
232 Seiten
ISBN: 978-8872837368

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